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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Zwei Menschen schlurfen durch eine Allee von Kirschbäumen. Weiße Blüten hängen an den Ästen und bedecken den Boden, als hätte ein Impressionist die Szene gemalt. Der Mann trägt einen leger geschnittenen, beigefarbenen Anzug und geht stets zwei Schritte vor der Frau, die mit einem gelben, weiß gepunkteten Kimono bekleidet ist. Beide sind verbunden durch eine lange rote Kordel, deren Schlaufe sie hinter sich herziehen. Das Bild ist von vollendeter Schönheit und verstörender Anmut, eine farblich abgestimmte und auch seelische Symbiose in "Dolls", dem zehnten Film von Takeshi Kitano.
Die Kleidung hat der japanische Designer Yamamoto entworfen. Sie spielt bei drei tragischen Liebesepisoden eine zentrale Rolle, ebenso wie die leuchtenden Landschaften der vier Jahreszeiten. In der ersten Geschichte hat der junge Geschäftsmann Matsumoto (Hidetoshi Nishijima) seine große Jugendliebe Sawako (Miho Kanno) verlassen, um die Tochter seines Chefs zu heiraten. Am Tag der Hochzeit erfährt er, dass Sawako sich mit Tabletten umbringen wollte. Nun hockt sie geistig verwirrt im Krankenhaus und kann sich an Matsumoto nicht erinnern. Als er sie so sieht, gibt er alles auf, Job und Wohnung, um fortan mit Sawako durchs Land zu ziehen.
Unterwegs kreuzen sie stumm und symbolisch die Wege von zwei weiteren Paaren. Als der alternde Yakuza Hiro (Tatsuya Mihashi), der schon mehrere Attentate überlebt hat, sich mit seinem neuen, jungen Leibwächter unterhält, erinnert er sich an seine Jugendliebe (Chieko Matsubara). Vor Jahrzehnten hatte sie ihm täglich das Mittagessen mitgebracht, das sie auf einer Parkbank gemeinsam verspeisten. Dann verließ er sie, um Macht und Geld zu erlangen. Sie schwor, jeden Tag hier mit dem Essen auf seine Rückkehr warten. Als Hiro nun nachsieht, sitzt sie tatsächlich dort mit den Lunchpaketen auf dem Schoß, erkennt ihn aber nicht.
Im dritten Akt spitzt Kitano die Erinnerung und das Erkennen in einer Verzweiflungstat zu. Der verträumte Bauarbeiter Nukui (Tsutomu Takeshige) schwärmt für die junge Popsängerin Haruna (Kyoko Fukada). "Ein Blick von dir, ein Blick von mir, und die Sterne leuchten auf", singt sie kitschig zu einem Dancebeat. "Wenn man verliebt ist, werden alle Mädchen schön." Der glühende Verehrer hat einen Rivalen, der ebenso geduldig vor Harunas Hotel ausharrt. Eifersüchtig registriert Nukui, wie sie sich beim Signieren eines Fotobandes von ihr dessen Namen gemerkt hat. Eines Tages erleidet Haruna bei einem Autounfall eine schwere Wunde am linken Auge. Sie zieht sich aus dem Musikgeschäft zurück, will sich nicht mehr zeigen und niemanden sehen. Lange starrt Nukui auf ein Foto von ihr, greift zu einer Rasierklinge und schneidet sich beide Pupillen heraus.
Die Liebe gewinnt nicht in "Dolls", sie tötet. Und der Tod ist letztlich eine Erlösung, wie bei fast allen Filmen von Kitano, in denen darauf gewartet wird, dass das Schicksal unweigerlich zuschlägt, das die Fäden zieht und uns zu Puppen macht. In "Dolls" verdeutlicht Kitano das mit dem traditionellen japanischen Marionettentheater Bunraku am Anfang des Films. Man sieht die Puppenspieler, die sonst vor einem abgedunkelten Hintergrund agieren, und das Stück "Der Bote der Unterwelt" über eine Kurtisane und ihren Liebhaber. Die hölzernen Figuren scheinen immer lebendiger zu werden, je länger man zuschaut, während die Schauspieler ihre Charaktere maskenhaft verkörpern. Immer regloser verfolgt Matsumoto, wie Sawako umher tapst, sich mit starrem Blick wortlos an ein Spielzeug klammert, bis auch er verstummt ist. Emotional zeigen sie sich nur inRückblenden, die Kitano wie bruchstückhafte Erinnerungen angelegt hat, als sie noch lachten und sich ewige Liebe versprachen.
Ein hypnotischer, zerbrechlicher Schleier scheint über allen Episoden zu liegen. Haruna führt den blinden Nukui durch einen Rosengarten, Hiro und seine unwissende Jugendliebe blühen im Park noch mal auf, doch am Schicksal ändern können sie nichts, auch nicht wirklich oder wieder zusammenfinden. Sekunden oder ein Schritt entscheiden über den Lauf des Lebens, über Tod oder ewiges, selbst auferlegtes Leid. So verstreichen die Jahre und die Jahreszeiten, durch die Matsumoto und Swako wandern. Die Natur wechselt prachtvoll die Farben, und in jeder Phase tragen die beiden andere Kostüme. Am Ende haben sie sich den Marionetten vom Anfang angeglichen in einer Sequenz, die so bitterlich und poetisch ist wie die Stop-Motion-Bilder aus dem von Tim Burton produzierten Puppenfilm "A Nightmare Before Christmas".
Gefühle sind für Takeshi Kitano grausamer als Kugeln. Deshalb ist "Dolls" brutaler als seine Yakuza-Filme wie "Violent Cop", "Sonatine" oder zuletzt "Brother". Schon die Leidenschaft eines taubstummen Jungen für das Surfen in "A Scene At The Sea" war ebenso anrührend wie schmerzhaft. Doch letztlich sind die Liebenden dem Vergeblichen und Unvermeidlichen so ausgeliefert wie die Gangster, was Kitano in "Hana-Bi" zeigte. "Dolls" ist ein gnadenloses Melodram, sperrig, surreal, stilistisch brillant und wahrhaftig in seiner Konsequenz und Nüchternheit, die einen gerade deshalb zerreißt wie ein Schuss ins Herz.
Dolls Japan 2002. Regie/Drehbuch: Takeshi Kitano. Darsteller: Miho Kanno, Hidetoshi Nishijima, Tatsuya Mihashi, Chieko Matsubara, Kyoko Fukada, Tsutomu Takeshige. Produktion: Bandai Visual, Tokyo FM, TV Tokyo, Office Kitano. Verleih: Rapid Eye Movies. Länge: 113 Minuten. Start: 30. Oktober 2003